Ein Junge, der vor zehn Jahren auf See verschollen war, kehrt unerwartet nach Hause zurück

Margot hatte längst gelernt, mit einem Schmerz zu leben, den sich die meisten Mütter nicht einmal vorstellen können. Ihr Sohn Oscar, ein fröhlicher und aufgeweckter Siebenjähriger, verschwand vor zehn Jahren während einer Familienkreuzfahrt. Im einen Moment stand er noch neben ihr am Geländer … und im nächsten war er weg – als hätte ihn das Meer verschlungen. Die Suche dauerte Wochen. Hubschrauber durchkämmten den Himmel. Rettungsschiffe fuhren hinaus aufs Meer. Freiwillige suchten jeden Zentimeter der Küste ab.

Doch sie fanden nichts.

Es geschah an einem regnerischen Donnerstag. Sie hatten gerade den Tisch nach dem Abendessen abgeräumt, als es schrill und eindringlich an der Tür klingelte.

Evan ging zur Tür, schaute durch den Türspion und erstarrte.

Kein Wort. Keine Bewegung. Nur ein blasses Gesicht.

Ein hagerer Teenager stand in der Tür. Seine Kleidung hing schlaff herunter, seine Haut war kränklich blass. Nasses Haar verdeckte seine Augen.

„Oscar?“

Der Junge hob den Kopf, und Margot sah alles, was sie auswendig kannte: Dieselbe kleine Narbe, die Konturen seines Gesichts, die Angewohnheit, sich auf die Lippe zu beißen, wenn er nervös war. Er war es. Lebendig. Nach zehn Jahren zurückgekehrt.

Aber er hatte sich stark verändert. Er sagte kein Wort – nicht einmal, als Margot schluchzend an ihn gedrückt wurde und Evan fassungslos danebenstand. Oscar setzte sich angespannt auf das Sofa, als wolle er fliehen. Sein Blick huschte umher und suchte die Zimmer und Türen ab. Fragen sprudelten aus ihm heraus.

Doch er schwieg. Nur Tränen rannen ihm leise über die Wangen. Am nächsten Tag kauften ihm seine Eltern alles neu – Kleidung, Schuhe, Bettwäsche. Nur die Erinnerungen an den alten Oscar blieben.

Doch das Seltsame nahm immer mehr zu. Er zuckte bei lauten Geräuschen zusammen. Er weigerte sich, am Fenster zu schlafen. Margot fand ihn in dieser Nacht auf der Treppe, die Arme um die Knie geschlungen.

„Sie … sie sagten, du hättest mich vergessen“, flüsterte er.

Margot spürte, wie ihr das Herz brach.

„Wer hat das gesagt?“, fragte sie leise. Oscar senkte den Blick.

„Leute von der Insel.“

Allmählich begannen sich Oscars Erinnerungen – in kurzen Bruchstücken – zu regen.

Er fiel ins Wasser. Jemand warf ihm ein Seil zu. Sie zogen ihn auf ein hölzernes Boot ohne Flagge.

Sie brachten ihn zur Insel.

Einer Insel, die auf keiner Karte verzeichnet ist.

Dort waren andere Kinder. Sie alle hatten dieselbe Geschichte.

Man hatte ihnen gesagt:

„Eure Eltern haben aufgehört zu suchen.“

Und zehn Jahre lang lebte Oscar in dem Glauben, verlassen worden zu sein.

Bis eines Nachts ein Sturm einen Teil des Zauns zerstörte. Er floh.

Die Polizei leitete sofort Ermittlungen ein. Doch als sie die Koordinaten erreichten, an die sich Oscar erinnerte …

… war dort nichts.

Und Oscars letzte Worte ließen alle erschaudern.

„Sie sagten… falls jemand die Flucht schafft…

werden sie zurückkommen, um die anderen zu holen.“